Schulterlange, graue Haare, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, aus dem Off brummt das Neumond-Intro: In einer Nebelwolke betritt Joachim Witt, Altmeister des deutschen Liedes, die Bühne des Musikzentrums in Hannover am letzten Apriltag des Jahres 2014. Alt geworden ist er. Vermeintlich. „Ihr werdet noch sehen“, ruft er gleich zu Beginn seines Auftritts in die Menge. Es sollte ein Versprechen sein – für einen Abend voller Energie, Leidenschaft, Perfektion und Spielfreude. Und das Publikum wunderte sich. Mehr als einmal.
Den Abend eröffnen die Elektro-Popper „Leichtmatrose“ um den Witt-Ziehsohn Andreas Stitz aus Münster mit dem Song „Astronaut“. „Gestern in Berlin (zum Tourstart, Anm. d. Red.) war ich noch scheiße nervös. Heute bin ich nur noch nervös“, räumt Stitz ein, von Beruf Bewährungshelfer. Und mit Songs wie „Dalai Lama“, „Sexi ist tot“ oder „Ich hab Dich bloß“ erarbeiten sie sich an dem Abend hin und wieder einen Achtungsapplaus. Die eine oder andere Hüfte wippt auch artig mit – und fordern das Publikum energisch auf mit einem: „Jetzt tanzt doch mal.“ Brave Loops, Texte, die in Ansätzen in ihrer Tiefe aus der Feder von Witt stammen könnten – gefühlt hat man das alles schon mal gehört. Nur besser. Denn gesanglich überzeugt der Frontmann nicht. So bleiben die Leichtmatrosen blass wie die Kleidung der Herren an den großartig vorhandenen Elektrogeräten.
Mit LöwenHertz betreten weitere brave Jungs die Bühne: Die Newcomer aus Augsburg sind wieder ein lebender Beweis dafür, dass es zum Musikmachen heutzutage tatsächlich nur ein Notebook und ein Keyboard braucht. Auch wenn sich die Stimme des Frontmans Alex Pfahler durchaus hören lassen kann. Soviel Minimalismus führt immerhin zu tanzbarem Elektro-Pop. Englische Texte, deutsche Texte – und weil Produzent Jose-Alvarez Brill auch schon im Dienste von Wolfsheim, De/Vision oder Witt unterwegs war, sind Parallelen mitunter nicht zu leugnen. Aber mit der Bühnenshow können sie an dem Abend, ebenso wie die Leichtmatrosen, keinen Blumentopf gewinnen. Da beballert das Licht in blau und rot Publikum wie Bühne, da hakelt der Ton, da steigen Instrumente aus.
Was für eine Wohltat, als die Bühne dann, geschmückt von einem überdimensionalen, elegisch, fast religiösem Konterfei Witts, von richtigen Musikern bevölkert wird. Zwar wollte Witt die Tour ursprünglich mit Keyboarder Martin Engler (Mono Inc.) und Gitarrist Chris Harms (Lord of the Lost) antreten, aber auch die Vertretung wird einen gigantischen Job machen.
Herr Witt mag ein paar Falten und graue Haare mehr bekommen haben, seiner Freude, auf der Bühne zu stehen, tut das keinen Abbruch. „Ganz schön alt seid Ihr geworden“, witzelt er – passenderweise nach dem Song „Aufstehen“. Noch stöckelt er steif, etwas gebückt über die Bühne. Fast möchte man ihm den tüdeligen Greis abnehmen, lässt er sich während des Konzerts doch hin und wieder einen Hocker bringen, um sitzend weiterzuarbeiten. Doch seine Augen sprechen eine andere Sprache. Dort tanzen die Funken, die das Publikum entzünden: „Die Erde brennt“ – und das Publikum tut es längst. Er wirft Kusshände von der Bühne, flirtet mit den Fans. Zwar verspricht er, sie „nicht mit schweren Themen zupflastern zu wollen“. Doch dafür sind die Songs von Witt nicht gemacht. Zuviel Tiefgang, zuviel der gesellschaftlichen Kritik, zuviele Emotionen. Es geht um unerreichte Träume, gebrochene Herzen, verletzte Gefühle – zwischen Himmel und Erde. „Bis ans Ende der Zeit“, „Mein Herz“, „Es regnet in mir“ oder „Dein Lied“ sind die schönsten Stücke des neuen Albums „Neumond“: Witt wirkt, als sei er gefälliger und weniger kantig geworden. Die Stimme klingt rauer. Er hüllt sein Publikum fast sanft ein. Und trägt diese Sanftheit hinein in eine musikalische Pause, in der er zu den älteren Stücken überleitet: „Gloria“ muss sein, hebt an zur Hymne „Königreich“. Und – da ist er wieder ganz der Alte – rockt die Bühne mit „Tief“ vom Album Bayreuth 1. Und während dem Publikum längst der Schweiß in Strömen Rücken und Stirn hinab fließt, hat der Altmeister nicht eine Perle an der Schläfe. Ein rührendes „Bataillon d’Amour“ darf ebenso wenig fehlen wie die legendäre „Flut“, auch wenn das Publikum beim Stichwort „Wasser“ etwas auf der Leitung steht und die Anspielung in Witts Anmoderation zunächst überhört. Das Zugaben-Set eröffnet er mit dem Eisenherz-Titel „Supergestört und superversaut“, um sich dann dem Titelsong des 2002-er Albums zu widmen. Und spätestens jetzt ist er wieder ganz der alte: Mit seinen bekannten Stakkato-Bewegungen, wirrem Blick und großen Gesten hechtet Witt über die Bühne.
„Und nun wird es sehr alternativ“, kündigt er geheimnisvoll an. „Weil ich jetzt Gitarre spiele.“ Ein Akkord erklingt. „Das ist G-Moll“, klärt er auf. Und aus dem G-Moll-Akkord wachsen die ersten Takte des „Goldenen Reiters“. Das Publikum tobt. Und singt, während Witt den Takt vorgibt. Er lässt sich feiern. „Ich war lange nicht mehr auf der Bühne – und ich genieße das jetzt in vollen Zügen“, hatte er eingangs seinen Fans erklärt. Und wer er jetzt noch immer nicht glaubt, wird bei einem zweiten Zugaben-Set eines besseren belehrt: Da holt der Altmeister sogar den „Herbergsvater“ aus der angestaubten Schublade und schüttelt übermütig die graue Mähne ins Publikum. Ein Profi auf der Bühne scheint restlos glücklich im Freudentaumel – und die Fans sind es auch. Chapeau, Monsieur!
KM/NP