Joachim, der Witt mit INTRASONIC

Familienfest mit 35 Jahren Musikgeschichte

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Joachim Witt am 8. Oktober im Musikzentrum Hannover

DSC_2315„Hallo Ihr Lieben. Herzlich willkommen zur Familienfeier in Hannover“, begrüßt ein bestens gelaunter Joachim Witt sein Publikum im Musikzentrum an diesem 8. Oktober. Und richtig: In den vergangenen drei Jahren macht er regelmäßig in Hannover Station. Das letzte Mal im Frühjahr 2014. Und fast möge der geneigte Zuhörer ein Deja vu bekommen, denn den Titel „Neumond“ hat er schon auf seiner letzten Tour als Intro platziert.

Passenderweise heißt es in den Zeilen des Openers „Über das Meer“ aus dem neuesten Album „Ich“: „Bin wieder zurück aus dem Exil“ – so etwa fühlt es sich für die Fans an, wenn der ergraute Meister sich für Monate zurückzieht, um über neuen Texten und Melodien zu brüten – und nun das Feuerwerk seines Schaffens von der Bühne ins Publikum sprüht.

DSC_2288Während die Bühnendeko einen Witt mit schulterlangem Wallehaar zeigt, steht er selbst wie frisch vom Frisör mit brav gestriegelter Kurzhaarfrisur vor seinen Fans. Wie ein alter Mann stöckelt er zunächst steif über die Bühne, kokettiert angesichts des ergrauten Haupthaares mit seinem hohen Alter. Und wandert während seiner gut zweistündigen Performance mal locker durch 35 Jahre Musikgeschichte. Er beginnt seine Reise in der Bayreuth-Zeit und kramt tatsächlich „Jetzt und ehedem“ hervor. Diesen Text von Friedrich Nietzsche hatte er im Jahr 2000 vertont und damit das Projekt „Songs of Goethe und Nietzsche“ bereichert, das die Stadt Weimar an den Start gebracht hatte, als sie Kulturhauptstadt Europas war. Welturaufgeführt hatte der den Song damals mit klassischem Orchester im Schlosspark Belvedere, verewigt hat er ihn auf seiner Bayreuth II; nun musste auf der kleinen Bühne die Technik das Orchester mimen. Doch da ist Witt schon längst wieder zu gewohnter Kraft und Energie warmgelaufen – und bald bei seinem vorletzten Album „Neumond“ angekommen: „Es regnet in mir“ und „Frühlingskind“ erklingen.

DSC_2301Und da er meinte, dass auf der letzten Tour das Album „Dom“ zu wenig Beachtung fand, schenkt er seinem Publikum auch noch „Jetzt geh“ ebenso wie „Mut eines Kriegers“. Ohne vorher unerwähnt zu lassen, dass sein neues Album „Ich“ ganz anders geworden ist als gedacht – und an diesem Abend auch Titel wie „Tod oder Leben“ oder „Hände hoch“ zelebriert.
DSC_2354Zwischen den Titeln gibt sich Joachim Witt als tiefsinniger, charmanter Unterhalter, der fast ausgelassen mit dem Publikum witzelt. Fast möchte man meinen, dass mit jedem Lebensjahr mehr auf dem Buckel er sich freier fühlt. Befreit von der Last des Lebens, die er Stück für Stück von sich streift. Es fallen Sätze wie: „Es geht mir auf den Keks, dass Ihr alle so normal ausseht.“ Es ist kein Vorwurf, keine Kritik. Es ist Koketterie. Ein Scherz mit Erhabenheit.

Fast mutig möchte man es nennen, dass er es an diesem Abend immer wieder schafft, donnernde Rhythmen mit tiefschürfender Melancholie abzuwechseln, ohne dass Brüche entstehen. Dass auf „Strenges Mädchen“ ein Titel wie „Gloria“ unfallfrei folgen kann, geht nur, wenn der Meister das Ding in die Hand nimmt und die Stakkato- und marionettenhaften Bewegungen irgendwann dadurch unterbricht, dass er die Bühne verlässt und später, gefühlt nach einer halben Ewigkeit, diese wieder betritt, um auf einem Barhocker Platz zu nehmen, die Bundfalte der Hose zurechtruckelt und so für die nötige Ernsthaftigkeit sorgt.

DSC_2276Nach „Olé“ und „Shut the fuck up“ sollte fürs erste Schluss sein. Doch wer Witts Familienfeiern kennt, der weiß, der hofft!: Das kann nicht alles gewesen sein. Und so kommt natürlich noch „Die Flut“ übers Publikum, und „Supergestört und superversaut“ muss auch noch sein.

Spätestens jetzt hat der Altmeister wilde Fahrt aufgenommen und ist warm gelaufen für den letzten Schritt: Ohne „Goldenen Reiter“ und den „Herbergsvater“ lässt das Publikum ihn nicht gehen. Und das ist gut so, denn auch das ist Teil Witt-Biografie. Noch während seiner Bayreuth-Zeit hat er sich geweigert, diese Titel jemals wieder aus dem Gepäck zu holen. Aber mit 66 Jahren, da fängt das Leben an.

(km)