Tag 4: Samstag, 08.07.2023
Hier geht es zum Mittwoch, Donnerstag und Freitag
Die Temperaturen sind unerbittlich gestiegen, der Wind hat fast gänzlich aufgehört, und für den Rockharz-Samstag sind 32° C angesagt. Im Schatten, wohlgemerkt. Das ist besonders für die frühen Bands, die genau in der Mittagshitze auftreten müssen, eine echte Belastung. Zusätzlich haben sich deutlich weniger Besucher:innen auf dem Infield versammelt, und zwar relativ unabhängig davon, wer gerade spielt. Das Wetter zehrt einfach zu sehr an den sowieso schon durch drei Festivaltage strapazierten Kräften. Viele haben sich jedoch trotzdem vor den Bühnen eingefunden, um Voodoo Kiss, Soulbound, A Life Devided und Ohrenfeindt zu unterstützen. Im Anschluss hätten Draconian spielen sollen, die aber bereits Anfang Juni absagen mussten. Postwendend wurden Einherjer als Ersatz angekündigt, die nun auf der Rock Stage braten dürfen. Die Norweger lassen sich die Hitze aber nicht anmerken und ziehen durch.
Kurz bevor die Melodeather Wolfheart ihr Set auf der Dark Stage beginnen, gibt es eine der begehrten Abkühlungen durch die Grabenschlampen, die den Gartenschlauch auspacken und die Menge ausgiebig wässern. Der Band bleibt diese Erfrischung leider versagt. Obwohl sie sich dem ungewöhnlichen Genre Winter Metal verschrieben haben, bleibt es heiß, da hilft auch der Song „Aeon of Cold“ nichts. Kein Wunder also, dass Fronter Tuomas Saukkonen einen „human ventilator“ verlangt. Gemeint ist ein Circle Pit, der auch prompt geformt wird. Allerdings gibt es aufgrund der Hitze bald Ermüdungserscheinungen. Laut Saukkonen ist es trotzdem der beste menschliche Ventilator, den er je gesehen hat. Die Finnen mit griechischer Unterstützung liefern auf den Punkt ab. Vor allem Gitarrist Vagelis Karzis (ex-Rotting Christ), hat seine Rolle über die letzten Jahre ausgebaut, übernimmt Klargesang und viele Gitarrenleads.
Die hoffentlich letzte Band, die bei der Anreise zum Rockharz Probleme hat, ist Legion of the Damned. Die Niederländer sind unterwegs mit ihrem Van liegengeblieben, der Soundcheck muss in Abwesenheit der Band von der lokalen Crew gemacht werden. Obwohl sie mehr oder weniger eine Punktlandung hinlegen, kommt es zu einer Verzögerung von 20 Minuten und der Sound muss sich über die ersten Songs erst noch eingrooven. Ihre Entschuldigung nimmt das Rockharz-Publikum gerne an.
Als Nächstes sind Moonspell an der Reihe. Sie begrüßen die Zuschauer:innen mit „welcome to the spell“ und zählen in ihrer Muttersprache Portugiesisch ein. Bei ihnen geht es sehr viel melodischer und ein gutes Stück langsamer zu als bei ihren Vorgängern. Wie das Rockharz haben auch Moonspell bereits 30 Jahre auf dem Buckel, wie Fronter Fernando Ribeiro betont. Ihren letzten Song widmen sie Dirk Lehberger und ihren „brothers and sisters“ von Lacuna Coil, die direkt nach ihnen auf der anderen Bühne spielen.
Mit Lacuna Coil bleiben wir in Südeuropa, bewegen uns aber von Portugal nach Italien. Das heißt allerdings nicht, dass die Musiker:innen aus Mailand sehr viel besser mit der Hitze klarkämen als unsereins. Bis auf Sänger Andrea Ferro haben alle ihre Overalls an den Armen und Beinen hochgekrempelt und opfern damit etwas Look für wenigstens ein bisschen Belüftung. Ihr Modern Metal versprüht eine ordentliche Portion Groove und weckt die Menge nach den doch gemächlicheren Moonspell wieder auf. Nachdem sie letztes Jahr eine komplett überarbeitete Version ihres 2002er Albums „Comalies“ veröffentlicht haben, spielen sie nun die neuen Versionen der alten Stücke, was leider bedeutet, dass die alten Versionen schmerzlich vermisst werden. Dies betrifft heute „Heaven’s a Lie“ und „Tight Rope“, das sie Dirk Lehberger widmen.
Nachdem es mit Carcass auf der Rock Stage noch mal deutlich härter geworden ist, sind Life of Agony an der Reihe, deren derzeitige Tour unter dem Stern des 1993er Debütalbums „River Runs Red“ steht. Wie das Rockharz wird es also dieses Jahr 30. Fronterin Mina Caputo versetzt aber zuerst allen einen kleinen Herzinfarkt, als sie sich noch vor ihrem ersten Einsatz einmal vor dem Drumset auf die Nase legt. Schuld scheint ihr eigener Mikroständer gewesen zu sein, den sie eigentlich nur aus dem Weg räumen wollte. Ruck zuck ist sie aber wieder auf den Füßen und legt los. Bereits sehr früh hauen Life of Agony mit „Underground“ ein Highlight raus, später sorgt „I Regret“ für Gänsehaut. Zum Abschluss versorgt die Band das Publikum noch mit einigen Flaschen Wasser, die dieses mehr als nur gut gebrauchen kann.
Pünktlich zum Sonnenuntergang betreten Lord of the Lost die Rock Stage. Es wird keine Zeit durch lange Ansagen verschwendet und das durchgehend krachende Set überzeugt sogar einige der zunächst eher skeptischen Zuschauer:innen. Sänger Chris Harms ist die pure Freude und Euphorie anzumerken: „Rockharz, wir haben euch vermisst. Danke, dass ihr hier mit uns feiert!“ Zu „Blood for Blood“ wird kurzerhand der One-Person-Cirle-Pit erfunden; springen und sich dabei um sich selbst drehen. Neben dem runden Geburtstag des Festivals gibt es für die Band auch noch einen persönlichen Grund zum Feiern: Drummer Niklas Kahl ist vor sechs Jahren beim Rockharz zum ersten Mal mit Lord of the Lost aufgetreten und seitdem nicht mehr wegzudenken. Natürlich darf „Blood and Glitter“ nicht fehlen, die unverdiente Niederlage beim ESC wird mit Humor genommen.
Nun läuft der Countdown und die letzten drei Bands des diesjährigen Rockharz sind angezählt. Nachdem Saltatio Mortis auf der Dark Stage alles abgefackelt haben, was ihnen vor die Flammenwerfer gekommen ist, ist es aber zuerst die alljährliche Ansprache der Veranstalter:innen an der Reihe. Hier wird der gesamten Crew zurecht gehuldigt, den Fans gedankt und der Toten gedacht.
Neben Dirk Lehberger, dessen Name das ganze Festival über häufig gefallen ist, ist leider ein weiteres Crewmitglied überraschend gestorben. Erst am Vortag kam die Küchenchefin des Artist Catering bei einem Autounfall ums Leben. Eine solche Ballung an Hochgefühl und Trauer in einer einzigen Festivalverabschiedung hat es auf dem Rockharz jedenfalls noch nie gegeben.
So fühlt man sich noch ein wenig verstrahlt, als Amon Amarth auf der Rock Stage loslegen. Der Vorhang fällt – er muss von sechs Mann aus dem Weg geschafft werden – und enthüllt einen beeindruckenden Bühnenaufbau, der von der Theatralik zeugt, die man von Amon Amarth gewöhnt ist. Sie legen mit „Guardians of Asgaard“ los und spicken ihr Set geschickt mit Klassikern und Publikumslieblingen wie „Death in Fire“, „The Pursuit of Vikings“ und „Twilight of the Thundergod“. Auch wenn der Band mit Recht ein Gleichklang nachgesagt wird, so gestalten sie ihre Show doch abwechslungsreich. Dass dabei Gimmicks eine große Rolle spielen, ist bekannt. So imposant wie die etwa zehn Meter hohe aufblasbare Wikingerstatue in Holzoptik sind auch der Schiffsbug und die Midgardschlange. Schmunzeln kann man, wenn die Luft rausgelassen wird und wenn Fronter Johan Hegg am Ende des Sets mit einen Thorhammer auf die Schlange einschlägt. Mit einem Loki und Schwertkämpfern als Unterstützung sowie zahlreichen Kulissenwechseln wird aus dem Konzert schnell Musiktheater. Beste Unterhaltung also, und natürlich muss auch das Publikum seinen Beitrag leisten. Das Ruderboot läuft, der ein oder andere Pit sowieso. Ein Crowdsurfer bringt eine Klobrille mit nach vorne. Nach dem würdigen Auftakt am Mittwoch nun also ein würdiger fast-Abschluss, den gleich sind noch Phil Campbell & The Bastard Sons dran.
Wie bereits in den Vorjahren ist auch dieses Rockharz wieder wie im Flug vergangen. Dass das Festival trotz seiner langen Geschichte und sicheren Position nicht davor zurückschreckt, sich weiterzuentwickeln, muss aber noch kurz unterstrichen werden. So ist das Rockharz stets inklusiver geworden und hatte dieses Jahr die Lebenshilfe vor Ort, um Besucher:innen mit Handicap zu unterstützen. Nur eines von vielen kleinen Details, die alljährlich einen so angenehmen Aufenthalt auf dem Festival ermöglichen. Wir freuen uns jedenfalls schon auf das Rockharz 2024 mit Kreator, Hammerfall, Dirkschneider, Hatebreed, Lordi, Schandmaul, Unleash the Archers, Soilwork, Orden Ogan, Unearth, D’Artagnan, Rage, Heldmaschine und Parasite Inc.
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Saltatio Mortis
Gedenkminute
Amon Amarth
Phil Campbell & The Bastard Sons
(AQ & VD)