Früher war alles besser? Ja. Nein. Vielleicht. Im Fall von Phillip Boa and the Voodooclub ist diese Frage nicht eindeutig zu beantworten. Zumindest nicht auf den zweiten Blick.
Ja, es gab diese Brüche. Den ersten wohl um 1993. Da wechselte Boa mit seinem Nebenprojekt „Voodoocult“ mal eben kurz zum Metal-Genre. Den zweiten um 1997, als Sängerin Pia Lund den Voodooclub verließ. Und alles, was die musikalische Post-Pia-Findungsphase in Form von „Lord Garbage“, „C90“ oder „Red“ hervorbrachte, scheint bis heute gut verpackt in Schubladen vor sich hin zu dämmern. Was auch besser ist.
Inzwischen hat Herr Boa mit seinen jüngsten Alben „Bleach House“ und „Loyality“ die Herzen seiner Fans zurückerobert, fand er doch auf geniale Weise zu sich selbst und seinen musikalischen Wurzeln zurück, um gleichzeitig zu neuer künstlerischer Reife zu gelangen.
Und trotzdem: Beim Konzert an diesem 4. November im Capitol zu Hannover war klar: Phillip Boa im Jahr 2016, das ist eigentlich der Boa bis 1996. Zwar eröffnete er den Abend mit „Kill the Future“ vom 2014er Album „Bleach House“. Aber genau genommen musste der Titel herhalten, um die Monitore auszupegeln, die Mikros in Position zu rücken – und die Fans anzuwärmen. Gnädig wippte das Volk auch später zu den anderen neuen Songs, die das aktuelle Album „Blank Expression“ in seiner Deluxe Edition hervorbringt, wie etwa „This Pain“ oder „Death is a woman“. Aber halt! Da klingt ein „Twistet Star“ dazwischen, als könnte das ein neuer Liebling werden. Der Titel gehört eindeutig in das Boa-Strickmuster, für das ihn seine Fans so verehren: treibende Drums, eingängiger Pop-Refrain, zartes Frauenstimmchen gegen Boa-Röhre. „Twistet Star“ stammt aus der Feder von Tastengott Toett, der auch schon für „Deep in Velvet“ verantwortlich war.
Der drangsaliert über den Abend hinweg Bierfässer und Kuchenbleche, getarnt mit obligatorischer Sonnenbrille. Und liefert im Hintergrund heimlich eine kongeniale Show an den Keyboards ab.
Aber wenn sie ehrlich sind, waren die Fans gekommen, um all die Sachen zu hören, die es jahrelang nicht oder kaum noch live gab: „Fine Art in Silver“, „Annie flies the Lovebomber“, „Container Love“ oder „Love on Sale“: Da springt das Volk vor der Bühne. Da tanzt auch noch die letzte Reihe im Publikum. Für sie war das neue Album „Blank Expression“ mit 19 besten Boa-Songs aus 30 Jahren und in neuem Gewand ein Segen. Und Herr Boa lässt sich gut gelaunt feiern. Eigentlich auch nur das. Die Ansagen zwischen den Songs sind reduziert. Ein Satz wie „Der Song ist noch so neu, den habe ich selbst noch nicht verstanden“, sind rar – und so typisch für den Ausnahmekünstler, der sich selbst oft weniger ernst nimmt als seine Anliegen, die er in seine Musik packt.
Boa, der Profi, der Freund der Brüche und des Nonkonformen, schafft es an diesem Abend, auf Punk-Klassiker wie „Albert is a Headbanger“ die Kuschelnummer „Standing blinded on the Rooftops“ folgen zu lassen, ohne dass der Stimmungsbogen abreißt, kommt doch der 2014er Song mit deutlich mehr Drive, Bass und Power daher, als ursprünglich auf dem Album angelegt war.
Und so endet der Abend, wie er enden musste: Das Beste zum Schluss. In guter Tradition münden 90 Konzertminuten in „This is Michael“ und „Kill your Ideals“. Die Masse tobt. Doch: Niemand skandiert mehr: „Aschloch!“, „Arschloch!“
Und war jetzt früher alles besser? Wer Boa im Jahr 2016 erlebt, ist sich noch immer nicht sicher. Denn auch die Songs, die wie „Diana“ mehr als 30 Jahre auf dem Buckel haben, oder Anti-Popsongs wie „Kill your ideals“ sind heute so aktuell wie damals. Und klingen live ausgereifter als je zuvor. Da ist heute doch besser als gestern.
(km)