Hämatom zerlegen das Capitol mit ihrer Bestie der Freiheit

Donnerstagabend in Hannover. Es ist kurz nach sieben und wird langsam dunkel. Vor dem Capitol drängeln sich mal wieder vermehrt dunkel gekleidete Männer und Frauen, die vorfreudig auf den Einlass warten. So kennt man das hier schon.

Alle Fotos (C) KaBo Photografix

Trotzdem wird mein Blick dieses Mal nicht von der Meute angezogen. Vielmehr interessiere ich mich für die Transporter, die vor dem Veranstaltungsort am Fahrbahnrand stehen. Die Fahrzeuge sind irgendwie besonders, sie sind auffällig und geben einen direkten Eindruck von dem, was mich und die anderen Wartenden an diesem Abend im Capitol erwarten soll. Die Fahrzeuge sind aufwändig beklebt mit obskuren Maskenbilern und Gesichtern, mit riesigen Bildern der Bandmitglieder, die einen förmlich anzuspringen scheinen. Und dann versteckt sich hier auch noch das Freak-Mobil, welches den Merchandise-Stand von Hämatom beherbergt. Coole Sache, denke ich, schaue mir das Ganze noch ein bisschen an und entscheide mich dann doch für den Weg ins Capitol – da spielt schließlich die wahre Musik.

Ziemlich pünktlich betritt die erste Vorband Kaizaa die Bühne und startet mit ihrer kurzen Show. Das Capitol ist an diesem Abend nicht ausverkauft, bis zu diesem Zeitpunkt tummeln sich viele der Anwesenden noch im Vorraum – die Band sieht sich daher leider eines eher mäßig gefüllten Saals gegenüber. Davon beirren lassen sich die vier Jungs, der noch recht frischen Band, aber nicht und versprühen mächtig gute Laune auf der Bühne. Die rockigen Songs mit deutschen Texten gehen ins Ohr.

Nach einer kurzem Umbauphase, bei der nahezu die komplette Bühne geräumt und durch den kleinen Pressegraben abtransportiert wird, betritt der Special Guest aus Tschechien die Bühne: Dymytry geben vom ersten Ton an Vollgas und die Leute im Publikum honorieren diesen Einsatz mit ebenso viel Energie. „The Beast from the East“, wie sich die Band selbst immer wieder nennt, sind härter, rauer und mit einer erhöhten Schlagzahl an bpm unterwegs. Die fünf Tschechen sind schon einige Zeit mit Hämatom unterwegs und man sieht und spürt, warum die Chemie zwischen den Bands passt und so vor Kurzem mit „Behind the Mask“ auch ein gemeinsamer Song beider Bands veröffentlicht wurde.

Die Show, die die fünf in Predator-Masken und passende Endzeit-Outfits gehüllten Musiker um Sänger Protheus abliefern, ist grandios. Protheus gibt stimmlich alles, was möglich ist und verursacht mir die eine oder andere wohlige Gänsehaut während der Songs. Die Gitarristen und Bassisten Dymo, Gorgy und R2R stehen dem in Nichts nach und beherrschen neben ihren Instrumenten auch das Prinzip der Inszenierung. Die Show ist durchdacht, großartig getimed und macht Lust auf mehr.  Das absolute Highlight an diesem Abend erlebe ich tatsächlich auch schon während der Vorband-Auftritte: Schlagzeuger Milos „Mildor“ Meier und seine fast 10-minütige Solo-Einlage. Explosiv, rasend schnell und trotzdem präzise lässt er währenddessen seine Drumsticks auf die Felle niedersausen und hält das Publikum in Atem. Jetzt wird auch mir klar, weshalb dieser Mann als einer der besten Schlagzeuger aller Zeiten in Tschechien gilt. Ein absolut gigantischer Auftritt!

The Beast from the East“ verlässt nach einer eigenen Interpretation des Ghostbuster-Themes die Bühne. Zu den Klängen von Biene Maja wird die Bühne ein zweites Mal umgebaut. Gewollt oder nicht, dem Publikum gefällt die musikalische Pausenuntermalung und nicht wenige Lacher sind zu vernehmen. Währenddessen wird die Bühne verhüllt und der Umbau für den Hauptact des Abends, Hämatom, schreitet voran.


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Die Show der Franken-Band startet mit einem Video-Opening. Dystopische Bilder gehen den ersten Klängen von „Zeit für neue Hymnen“ voraus. Sänger Nord ist für das dramatische Opening in einem Käfig gefangen und befreit sich erst während des Songs mit einem lauten Knall aus diesem. Vom ersten Ton an sind die Fans im Publikum voll dabei und feiern mit Nord, Süd, Ost und West und deren Performance. Zum Refrain von „Mein Leben“ scheinen Fans und Band nahezu um die Wette zu schreien, so gut kommt der Song an. Passend zu den „Säulen des Wahnsinns“ spendiert West auf der Bühne einen Feuerregen aus seinem Zopfwerk und der Kollege der Freiwilligen Feuerwehr, der neben mir steht, springt zum ersten Mal an diesem Abend auf, um sich das Ganze genauer und aufmerksamer anzuschauen. Aber alles gut – die Jungs wissen schließlich was sie tun und niemand muss gelöscht werden.

Ich hasse dich zu lieben“ und „Tanz aus der Reihe“ lassen die Stimmung im Capitol weiter hochkochen. Als Außenstehende hätte ich das nicht für möglich gehalten – die Freaks, wie Hämatom seine Fans mit einem Augenzwinkern nennt, beweisen mir gekonnt das Gegenteil. „Für alle die, deren Glas immer halb leer statt voll ist,“ spielen die vier dann „Warum kann ich nicht glücklich sein?“.

Erhobene Mittelfinger, laute wütende Schreie und volle Verausgabung begleiten die Band zum Song „Fick das System“. Hier fällt mir die Mutter mit ihrer Tochter auf, die in meiner Nähe stehen. Die Tochter – offensichtlich großer Fan der Band – gibt alles: Ich höre ihre Stimme aus der Menge heraus, ich sehe ihre Anstrengung und diese Euphorie ist tatsächlich ansteckend. Daneben ist die Mutter, als Begleitung, die ebenfalls ihre Tochter beobachtet und ob des unschicklichen Textes über die Freude ihrer Tochter schmunzelt. Familienabend mal anders, denke ich mir. „Lauter“ geht immer, denken derweil alle Anwesenden beim gleichnamigen Song – die Party im Bühnenvorraum steigert sich nochmals und Nord fordert auf zum „ultimativen Fitnesstest“:  aufspringen und ausrasten aus der Hocke. Bestanden, würde ich der Menge bescheinigen.

Ruhiger und eindringlicher wird es danach mit „Zur Hölle mit eurem Himmel“, bevor die Bass-Schlacht beim Song „Auge um Auge“ einsetzt und alles um mich herum und mein Körper zu vibrieren beginnen. Als Belohnung für’s Durchhalten und Mitfeiern bombardiert West die Freaks im Publikum mit Merchandise-T-Shirts aus seiner Kanone. Cooles Ding, Hut ab dafür!

Auf „Made in Germany“ und „Wehleidige Monster“ folgt eine mörderische Inszenierung: Bevor NordMörder“ zum Besten geben kann, wird West zum Richter und Henker und lässt ihn auf einem elektrischen Stuhl brutzeln. An diesen gefesselt schreit Nord passend zum Song seine Wut heraus und die Fangemeinde schreit wütend zurück. An Dramatik ist dieser Abend wirklich kaum zu überbieten. Die nächste Show-Einlage lässt auch nicht lange auf sich warten. Zum Song „Ikarus Erben“ schicken Hämatom ihren Schlagzeuger Süd zum Drumsurfen in die Menge. Auf einer kleinen Platte verbaut werden Drumkit und Schlagzeuger einmal quer über die Meute getragen. Selbst ich war nervös und hätte mit Stürzen oder zumindest etwas mehr Holpern bei dieser Aktion gerechnet. Aber die Hannoveraner scheinen erstaunliche Kräfte zu besitzen, denn Süd erreicht unbeschadet und recht munter wieder den sicheren Boden der Bühne.

Eine Hommage an „die guten alten Zeiten“ bringen Hämatom mit „Lichterloh“ auf die Bühne. Nord untermalt den Songtitel mit einer weiteren Show-Einlage und lässt Funken aus seinen Finger sprühen. Auch zu „Eva“ und „Lange nicht perfekt“ reißt die Begeisterung der Freaks nicht ab und die Band ist sichtlich angetan vom Feedback an diesem Abend. Und weil show-technisch bei Hämatom noch lange nicht Schluss ist, verlassen Nord und Ost zu „Totgesagt“ ihren Platz auf der Bühne und geben den Song mitten aus dem Publikum zum Besten.

Nach „Kids“ verlassen die vier Musiker vorerst die Bühne. Die Fans müssen aber nicht lange ausharren, denn mit „Wir sind Gott“ kommt Hämatom stark zurück. Zum neuen Titel „Behind the Mask“ stehen plötzlich nahezu alle Maskierten des Abends gemeinsam auf der Bühne und performen das Gemeinschaftswerk zwischen Hämatom und Dymytry. Einzig Schlagzeuger Milos „Mildor“ Meier fehlt in der Kombo. Für ein zweites Schlagzeug wäre aber auch kein Platz auf der Bühne des Capitols, die mit nun 8 wilden Bestien mehr als gut gefüllt ist.

Mit einer lauten und dreckigen Performance von „Leck mich“ verabschieden sich Band und Fans voneinander. Zumindest für diesen Abend.

(VB)

Alle Fotos (C) KaBo Photografix