bunt statt braun
Freitag, 5. August
Acht Eimer Hühnerherzen, check. H&M Punk mit minderem Bewegungs- oder Überraschungsfaktor. Power Plush, hingegen sind sicherlich cool für diese Welt, harmonisch, divers, Drei Frontfrauen, drei Ladys mit Saiten und ein Drummer. Sollte man sich noch mal anhören, könnte Potential haben.
Die Beatsteaks, alle sind für die Jungs aus Berlin da. Kein Zweifel, das Ufer platzt aus allen Nähten, keine Spur von Abstand, Distanz oder Masken. Keine Spur von Zurückhaltung. Die Beatsteaks bringen an diesem mäßigen Sommertag die Sonne zurück, beleben den Fährmann nach zwei Jahren Pause wieder, sie sind buchstäblich – nicht nur für Rammstein – das Kommando Sunshine.
Die Sunnyboys von der Spree bringen also die Stadt an der Leine zum Brodeln. Hier beim Fährmannsfest haben die Band, so Arnim Teutoburg-Weiß, vor 27 Jahren ihren zweiten Gig überhaupt gespielt. Immerhin! Hannover hat manchmal ja auch einen guten Riecher. Wie schön die Gentlemen heute wiederzusehen. Beatsteaks. Beatsteaks, das Publikum ist hungrig, tanzwütig, singt, lacht und nichts scheint heute unmöglich.
Doch bei all den Farben und Facetten, die die Band bespielt, steht auf der Visitenkarte der Berliner natürlich nicht etwa Partyclowns mit Klanghölzern. Die Beatsteaks sind ins Detail verliebt, supporten die LGBTQA Community in allen Farben des Regenbogens, von der Bühnendeko, Arnims Outfit, bis hin zum Nageldesign. Bunt statt braun.
Zugleich bespielen sie die aufmüpfige Melancholie einer Knef (Wo ist eigentlich Tom Schilling?) oder geben dem Piano Raum.
Die Masse feiert alle Farben, es scheint ein Crowdsurfing-Wettbewerb zu laufen und der Circle Pit von vorn bis hinten von der brodelnden Masse durchdekliniert. Warum auch nicht, es reiht sich Kracher an Kracher und mit Queens I want to break free verleihen die Beatsteaks der Aufbruchsstimmung des Sommers ihren Soundtrack.
„But I have to be sure when I walk out that door
Oh, I want to be free, baby
Oh, how I want to be free
Oh, I want to break free“
Samstag, 6.August
Das Fährmannsfest 2022 ist schmaler und kleiner als die „Vor-Corona“ Festivals. Dennoch haben sich alle Mühe gegeben, dass das Fährmannsfest überhaupt stattfinden kann. Nach dem gestrigen Tag mit nur 3 Bands sind heute, am Samstag gleich 6 Bands am Start. Akrtis, Letters send Home, Shrily Holmes, Team Scheiße, Massendefekt und Russkaja. Die beiden letzten Bands sind recht bekannt, dennoch haben auch die anderen Bands ihr Publikum gefunden.
Arktis (wirsindArktis)
Die erste Band hat es immer schwer? Arktis spielen mit viel Freude auf dem Fährmannsfest, es ist eine große Bühne, und auch wenn gegen 15 Uhr noch nicht all zu viel Publikum auf der Fährmannsfest Wiese vorhanden ist, haben Arktis und die Zuschauer*innen Ihren Spaß. Cross Over mit ein wenig Shout verbindet die Band mit treibendem Schlagzeug und zwei E-Gitarren.
Letters sent Home
Die Niedersachsen (Hannover und Wolfsburg) um Frontfrau Emily Paschke beschreiben sich selbst als Dark-Pop. Die zarten melancholischen Songs kommen, unterstrichen durch das Outfit der Sängerin, auf den ersten Blick als Goth Songs daher, sind dann aber eine Spur zu Poppig. Ein eigener Style, der sich noch etablieren darf. Neugierig? Die Band Letters sent Home haben einige Tonträger und YouTube Videos im Angebot.
Shirley Holmes
Das Berliner Trio macht Spaß. Der Tag nimmt eine Wendung. Es wird rockiger bzw. schon fast punkig. Detailverliebt aber mit viel Druck werden die Songs durch die beiden Frontfrauen getrieben, während beide Frauen zugleich die Saiten von Bass und Gitarre bearbeiten. Dabei gehen Sie gern ins Duett und treiben sich gegenseitig mit intelligenten Texten an. Hier wird „Gitarren Sport“ betrieben, Gehüpft und gesprungen. Dabei hat der Schlagzeuger immer ein gutes Gespür für den sauberen Takt. Alles im allen einfach gelungen und auch das zahlreicher werdende Publikum hat seinen Spaß mit Shirley Holmes.
Team Scheiße
Das ist dann wohl Punk. Aber vom Harten ein Stück mehr bitte. Ob nun der grad schnell gekrizelte Banner oder das abgerockte Schlagzeug, schon allein der Bühnenaufbau zeigt, dass es hier einzig um die Musik geht. Ist das dann „Alt-Punk“? Jedenfalls erinnern die sehr alternativen Texte und die Musik wirklich an den Punk vergangener Tage. Die Bremer sind rotzig und ohne Skrupel in den Texten. Songs wie „Erfurt“, „Rein ins Loch“ oder die Bundeswehr Hymne „Frank“ sind nur die Spitze des Eisbergs. Das Lindener Publikum feiert diese Band. Es wird getanzt und auch gepogt. Nach dem Set gibt es sogar die ersten Zugaben-Rufe.
Massendefekt
Life sind sie auf jeden Fall Punk Rock, auch wenn die Alben im Rock-Pop Ihre Fans finden. Erste Circle Pits und weiteres Pogen ist von Beginn an auf der Wiese des Fährmannsfestes auszumachen. Das wird eine Bewegungstherapie! Nach den gestrigen Beatsteaks sind Massendefekt eine Band, die die Nähe des Publikums sucht und findet. Dazu gibt es aus dem Leben gegriffene Texte mit Wut, Glück, Liebe und Freude. Wer aber was Gefühlsbetontes sucht, ist hier bei der falschen Band. Eher das Direkte und Klare in den Texten macht Massendefekt aus. Dazu gesellt sich eine Liveperformance mit Spielchen. Ob nun Hinknieen, Luftballaons, das Schlauchboot mit Musiker oder die zu Beginn geschwenkten Fahnen – alles für das Party Folk und genau das will feiern.
Russkaja
Der zweite Hauptact des Tages. Verdient Russkaja diesen Titel „Hauptact“? Das Fährmannsfest Publikum sagt ja. Speed Polka mit Metal-Einflüssen macht die Songs von Russkaja absolut tanzfähig, tanzpflichtig. Dabei darf ein Statement zum Krieg in der Ukraine nicht fehlen: Eine blaugelbe Peace Fahne deckt das Keyboard ein und auch bei der Bandvorstellung wird die Bühne in Blau-Gelb getaucht. Sänger Georgij ist in Russland geboren, Bassist und Mitbegründer Dimitrij in der Ukraine. Dazu gesellen sich Italien, Deutschland und Österreich. Dimitrij führt weiter aus: „wir können unsere Meinung frei äußern, weil wir einen österreichischen Pass haben… Stop the fucking War!“. Die Band steht für Liebe und Spaß für alle Menschen. Und so spielen Russkaja ein sehr ausgelassenes Set. Sie sind mit Schlagzeug, Bass und Gitarre sowie der Sektion aus Geige, Saxofon und Potete, einer einzigartigen Basstrompete alles andere als Easy Listening. Hier ein Tänzchen, dort ein wenig mehr Metal, leicht bekömmlicher Punkrock und ein wenig Ska werden mit der tiefen Stimme von Georgij vermischt. Ein Spiel zwischen slawischen Klischees, Schwermut und einer Tanzparty.
Sonntag, 9. August
Der Sonntag empfängt die Besucher*innen bei bestem Wetter um 15 Uhr auf der Fährmannsfest Wiese. Und es geht pünktlich los. Der Sonntag ist traditionell vom Eintritt befreit. Ein kleiner Wehmutstropfen ist aber dennoch das fehlende Kulturfest auf der gegenüberliegenden Faustwiese. Wir sind froh, dass das Fährmannsfest 2022 überhaupt stattfinden kann.
UrSolar aus Hannover Linden
Eigentlich ein Heimspiel und ja, ein Fanclub ist im Publikum auszumachen. Ob nun Verkatert, auf Deutsch oder auf Platt. UrSolar machen einfach Spaß, haben verrückt echte Texte und immer etwas den Schalk im Nacken. Dabei lieben sie Seifenblasen, diese wurden vorher extra im Publikum verteilt und auch die ein oder andere Seifenblasenmaschine sorgt für die bunten Bubbles. Und… es gibt Unterwäsche, die knapp auf der Bühne landet. Ein gelungener Anfang für den Sonntag.
PolyGhost
Die Achtziger sind zurück, nur irgendwie neu. Mit Neon Schriftzügen, Seidenjacken und enger Leggins stehen die Musiker*innen aus Chemnitz, Hannover und Hildesheim auf der Bühne. Das E-Schlagzeug gepaart mit viel Sequenzer Musik und treibender Gitarre umfasst das Spektrum dieser Band. Das Konzept dahinter erschließt sich dem Publikum nicht sofort. Die neuen 80er kommen nach und nach immer besser an und werden schließlich vom Fährmannsfest gefeiert.
High Fidelity
Hannovers Reinkarnation von Jimmy Hendrix? Langgezogene Gitarrenpassagen gepaart mit einer charismatischen Stimme bringen die High Fidelity’s auf die Bühne des Fährmannsfestes. Irgendwo zwischen Funk, Folk und klassischem Rock wird auch schon mal auf dem Rücken liegend die Gitarre gespielt. Dabei grooven die Hannoveraner lässig durch den frühen Abend. Klassischer und echter Rock der gefühlten 70er wird hier abgeliefert. So können sich Zuhörer*innen irgendwo zwischen Allman Brothers, America, Neil Young oder J.J. Cale wiederfinden. Ein schönes handgemachtes Stück Musik der noch frischen Band.
Catapuls
Erst am 1.5. war die Band im Bei Chez Heinz. Einige der heutigen Zuschauer*innen haben die Band dort schon kennenlernen dürfen. Der Aufforderung „kommt näher“ folgt das Publikum gern. Noch ist viel Platz, der sich jetzt vor der Bühne aber gut gefüllt hat. Der Rock geht gut nach vorn, ist druckvoll und laut. Dabei sind die Oldenburger energiegeladen. Wir beleihen uns ein wenig bei der Ankündigung, weil uns selbst schwerfällt, die Musik zu beschreiben, würden es eher beim Punkrock verorten. Doch das Fährmannsfest beschreibt die Band als Emo-Punk der von 0 auf 100 beschleunigt. Letzteres können wir unterschreiben.
Kaffkiez
Zum deutschrock aus dem Süden der Republik ist die Fährmannsfest Wiese nun sehr gut gefüllt. Der freie Eintritt hat sich rumgesprochen, das Wetter ist immer top und die Stimmung gleicht der einer ausgelassenen Party. Die Band hat Energie, springt und dreht sich mit dem Publikum. Die Songs der Rosenheimer werden mitgesungen und beklatscht. 12 Jahre sind Kaffkiez nun schon im Geschäft und können sich mit ihrer erdigen Musik auch bei vielen Medien und Radiosendern etablieren. Dazu kommen häufig ausverkaufte Konzerte. Ein verdienter Co Headliner!
Blood Red Shoos
– oder britischer geht es kaum. Die Band aus Bristol besticht schon allein dadurch, dass Sänger Steven Ansell am Bühnenrand seitlich zum Publikum am Schlagzeug sitzt. Dazu singt auch Laura-Mary Carter an der Gitarre, solo oder im Duett. Die Band erfindet sich ständig neu. Anfangs klar im Punk verortet, haben Sie den Ausflug über rohen Rock und vollelektronische Songs gewagt. Dazu gesellt sich Carters softe Stimme bevor die harten Drums alles aufbrechen. Auf dem Album „Ghosts On Tape“ verbinden sich die Songs so elektronisch mit knalligen Rock – Riffs und Drums. Das hat Wucht. Sehr anders, sehr sehens- und hörenswert!
Wir hoffen auf ein Fährmannsfest 2023 und auch auf die nicht ewig rot werdende Corona Warn App nach einem solchen Event. Das Festival ist in der Kürze der Vorbereitungszeit dennoch gut organisiert. Ob sich ein Solotag mit extra Eintritt bei den UrLindner*innen durchsetzt, bleibt abzuwarten. Viele haben das Festivalticket vermisst.
(NKP)